Was ist Spiritualität?
- Thorsten Reimann
- 14. Mai
- 7 Min. Lesezeit
Spiritualität ist eine besondere Form der Wahrnehmung: Spirituelles Sehen, spirituelles Fühlen, spirituelles Handeln. Inwieweit hat das mit Christentum und der christlichen Tradition zu tun oder inwieweit ist das transzendental übergreifend, also über verschiedene Kulturen hinweg? Spiritualität ist etwas, das den Menschen schon seit vielen Tausend Jahren zu eigen ist. Wir müssen lernen, mehr zu spüren und mehr zu fühlen, um zu verstehen, was uns als Mensch ausmacht, sowohl im rationalen als auch im emotionalen Sinne. Es gibt nicht DIE Spiritualität, es gibt verschiedene Erscheinungsformen von Spiritualität, je nachdem, welche Ausprägung die eigene Persönlichkeit hat. Kann man Spiritualität erlernen? Das wäre ja in etwa so, als könnte man ein Lernfeld Spiritualität in der Schule einrichten und den Kindern und Schülern Inhalte vermitteln, mit denen sie spirituell denken, handeln und fühlen lernen, aber ist es genau das? Ein wichtiger Punkt ist
Bereitschaft für Spiritualität oder spirituelles Denken - und natürlich den Raum dafür zu bekommen, die Möglichkeit und den Rahmen. Kommt dann spirituelles Denken von alleine oder braucht es dazu besondere Einflüsse und besondere Gegebenheiten?

Wohl kaum, vielleicht ist spirituelles Denken tatsächlich eine Form von Sinneswahrnehmung oder eine Form der Wahrnehmung, die man nie richtig gelernt hat, weil es in unserer rationalen Welt keinen Platz dafür gibt. Es ist nicht nützlich, es verdient kein Geld und es bringt die Menschen nicht voran, so wie ein Arzt, ein Techniker oder ein Verwaltungsbeamter. So gesehen ist es etwas Überflüssiges oder sogar Nutzloses. Andererseits gibt es in jeder Buchhandlung eine eigene Abteilung für spirituelle und esoterische Themen, zum Beispiel Persönlichkeitsfindung und Persönlichkeitsentwicklung, es ist Teil einer Mode, mehr noch, es ist sogar ein kompletter Industriezweig, mit dem einige Bestseller-Autoren gutes Geld verdienen. Aber was sind das für Inhalte, die darin vermittelt werden? Sind das Inhalte, die einen Menschen persönlich weiterbringen, ihn in seiner Entwicklung unterstützen oder ihm vielleicht nur eine Eigenschaft vorgaukeln, die es so gar nicht gibt? Allein diese ersten Gedanken zum Begriff ‚Spiritualität‘ zeigen bereits, wie vielschichtig dieses Thema ist und welche Aspekte man gesondert betrachten kann, um eine Antwort darauf zu finden.
Also: was ist Spiritualität? Oder anders gefragt: ist Spiritualität nützlich, überflüssig, oder sogar essenziell für die eigene Menschwerdung, für die Entwicklung eigener Potenziale, Ressourcen und Stärken? Und: wozu das Ganze und welche Bedeutung haben Religion und Kirche? Man kann durchaus sehr kritisch gegenüber Religion und Kirche sein. Aber Kirche ist nicht nur Machtfaktor und Religion ist nicht nur mittel zur Manipulation und zur Unterdrückung. Religion ist eine Möglichkeit des Weltzugangs, eine Erklärung dessen, was für den Menschen nicht erklärbar ist. Also die Frage: woher kommen wir, wohin gehen wir und was ist mit der Zeit dazwischen? Ich denke weiter darüber nach, glaube aber, dass ich bereits erste wichtige Einsichten zu diesem Begriff festhalten konnte. Ist Literatur spirituell? Ist Malerei spirituell? Ist Musik spirituell? Sind Gefühle spirituell? Ist eine Beziehung spirituell? Der Begriff der Spiritualität entzieht sich ein Stück weit rationaler Erklärung, so wie Gefühle entweder als eine Folge biochemischer Prozesse erklärt werden können oder aber als eine Reaktion auf einen besonderen Reiz, eine konkrete Überzeugung, eine persönliche Verletzung oder eine Hoffnung.
Menschen suchen Erklärungen für Dinge, die sie nicht begreifen, oder die sie nicht erklären können. Weil das so ist, versuchen Sie, Antworten zu finden, die Ihnen glaubhaft erscheinen, um eine schwierige, unübersichtliche oder verwirrende Situation aufzulösen und zu erklären. Der Mensch sucht stets Erklärung und Hoffnung. Diese beiden Elemente beschäftigen sein Denken über alle Kulturen
hinweg. Religion bietet Hoffnung und Wissenschaft Erklärung. Unsere moderne Welt hat wenig Platz für Unerklärliches - im Gegenteil, es beunruhigt Menschen, wenn etwas nicht erklärbar ist. Das ist verständlich, denn es gibt stets Erklärungen wissenschaftlicher, logischer und rationaler Art, wie Dinge zu Stande kommen, welche Konsequenzen sie haben und wie man sie möglicherweise auch verbessert, verändert oder sogar vermeidet. Diese Art zu Denken ist Teil unserer westlich-europäischen Art des Weltzugangs geworden.

Das es auch andere Sichtweisen und Perspektiven gibt, lässt sich am Beispiel der klassischen Schulmedizin zeigen. Es gibt die westliche, rationalistische Medizin, wie sie in Europa und auch Amerika vorherrschend ist, aber genauso gibt es die traditionelle chinesische Medizin, die über eine vieltausendjährige Erfahrung in der Behandlung und Heilung von Menschen besitzt. Beide Formen der Medizin oder Heilkunst können nebeneinander bestehen, keine davon ist besser oder schlechter. Welche davon die bedeutendere, erfolgreichere ist, kommt auf den Standpunkt an und auf die Perspektive, die ich einnehme, um damit Erfolg zu haben.
Spirituelles Denken muss nicht erfolgreich sein. Spirituelles Denken ist vielmehr eine Form der Wahrnehmung, die ich nicht abschalten kann oder die richtig oder falsch ist. Spirituelles Denken kann ich annehmen oder ablehnen. Vielleicht kann man es als eine Chance verstehen, einen erweiterten Blick auf unsere Welt zu bekommen. Tatsächlich eine Art Bewusstseinserweiterung im natürlichen Sinne, als Teil einer Möglichkeit des menschlichen Geistes, oder einer Fähigkeit des menschlichen Geistes. Sie ist nicht besser oder schlechter oder wichtiger oder unwichtiger, sie ist vorhanden. Für mich ist spirituelles Denken eine Selbstverständlichkeit, weil ich mit einer Vielzahl von Ausdrucksformen sehr vertraut bin, beispielsweise aus der Kunst, der Naturwahrnehmung, der

gegenständlichen und der abstrakten Malerei, der Musik - die uns mit anderen verbindet – und mit verschiedenen Mythologien, die uns als Menschen zu eigen sind. Gesellschaften haben ihre eigenen Mythologien geschaffen, begleitend zu ihrer Entwicklung als eigenständige Kulturen, sowie Menschen schon von jeher Geschichten geschrieben, sich Geschichten ausgedacht und Geschichten weitergegeben haben. Es liegt ein Reichtum darin, und vielleicht kann man spirituelles Denken auch mit einer besonderen Form des Reichtums beschreiben im Denken und im Wahrnehmen von Gefühlen - ich kann, aber ich muss nicht. Ich darf, aber niemand zwingt mich. Mir gefällt der Gedanke, Spiritualität mit Reichtum in Verbindung zu bringen, mit geistigem Reichtum, vielleicht sogar mit Schöpferkraft, mit Ideenreichtum, mit Erfindungen, mit der Neugier, Neues auszuprobieren und Altes vielleicht sogar zu hinterfragen.
Spiritualität kann gesehen werden als eine besondere Form geistigen Reichtums, als eine Fähigkeit, Dinge in einer ganz eigenen, individuellen Art und Weise wahrnehmen zu können. Ein weiterer Gedanke zu Spiritualität ist der einer Ressource. Spiritualität ist eine Ressource, die uns gegeben wird oder gegeben ist, die wir aber auch entwickeln und weiter entwickeln können. Was wir daraus machen, obliegt uns alleine: du musst nicht, aber du kannst. Es hat viel mit Freiwilligkeit zu tun oder mehr noch, mit Bereitschaft: ich bin bereit, oder ich fühle

mich bereit. Das ist eine Frage sowohl der Lebensführung, der Erfahrung, als auch der Motivation - der Motivation, mich darauf überhaupt einzulassen. Spiritualität hat etwas mit Befreiung zu tun, denn mit ihr verbunden ist eine ganz besondere Form des Glücksempfindens, der Offenheit für eine Welt, die mehr ist, möglicherweise mehr, als wir sie mit unseren normalen Sinnen zu erfassen vermögen. Mir ist klar, dass ich hiermit ganz dicht an einer Grenze oder an einem Grenzbereich entlang schramme, den man gemeinhin als Esoterik bezeichnet. Ich kann diesen Vorwurf nachvollziehen und ich mache ihn mir auch nicht zu eigen, denn er greift viel zu kurz. Es gibt im Bereich der menschlichen Entwicklung den besonderen Bereich der Mystik: Augustinus, Meister Ekkehard, Hildegard von Bingen; es gibt im Islam die Tradition der Sufis, als diesen ganz besonderen Bereich. Man hat Mystik in seiner Zeit immer mit Gott in Verbindung gebracht, als Ausdruck einer besonderen Berufung und Hinwendung zu Gott und mit einer besonderen Einsicht in die Beziehung zwischen Mensch und Gott.
Es gibt in den Naturvölkern eine ganz besondere Funktion, nämlich die des Schamanen. Der Schamane dient bei den Naturvölkern als Bindeglied zwischen der realen Welt und der Geisterwelt. Und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, wie wir sie heutzutage gar nicht mehr kennen, im Gegenteil sogar abtun als albernes Verhalten von primitiven und einfachen Kulturen. Aber diese Form der Ignoranz ist völlig unerheblich, denn sie ist nur Ausdruck einer Hilflosigkeit mit Fragen, beziehungsweise im Umgang mit Fragen, die durch die Wissenschaft nicht erklärt werden können. Dazu gehört die Frage nach dem Tod und die Frage, was ist unser Universum? Es entzieht sich möglicherweise einer rationalen oder sogar wissenschaftlichen Erklärung. Aber eine Annäherung ist möglich, genauso wie die Philosophie versucht, dem Menschen Erklärungen zu geben, was er eigentlich ist, was ihn ausmacht, was ihn antreibt und wozu er das alles macht.
Spiritualität kann als eine Form der geistigen Erweiterung und des Weltzugangs gesehen werden. Es hat immer auch mit Transzendenz zu tun, also der Fähigkeit,

etwas wahrzunehmen und zu erkennen, das mehr ist als das, was meine Augen und mein Verstand mir zeigen. Auch hier wieder der vielleicht gefährliche Grenzbereich zur Esoterik. Ich kann mich hinter dieser Form des Weltzugangs verstecken, oder mehr noch: ich kann einfache Gemüter mit vermeintlicher Erkenntnis über das ‚wahre‘ Leben verwirren, manipulieren und sogar ausnutzen. Dagegen gibt es unzählige historische Persönlichkeiten, die durch die Art ihres Lebens Beispiele waren für vorbildliches Leben und deren Ziele und Motivation zutiefst humanistisch geprägt waren, jenseits aller Optimierungsfantasien und Strategien zur Gewinnmaximierung und die überzeugt waren, dass der Mensch mehr sein kann als nur ein Gemengelage aus Trieben und Emotionen.
Was ist mit Schönheit und Ästhetik? Es gibt den klassischen Schönheitsbegriff, so wie er schon seit der Antike propagiert und in Kunst und Bildhauerei sichtbar wurde. Ist das pure Fantasie oder Ausdruck eines besonderen menschlichen Bewusstseins? Wenn man sich mit den Errungenschaften der menschlichen Zivilisation befasst, erkennt man, dass Menschen von jeher versucht haben, Spuren zu hinterlassen. Die Vielfalt dieser Spuren in Form von archäologischen Funden, in Form von Bauwerken und sonstigen Hinterlassenschaften sind Zeugnisse eines intellektuellen und künstlerischen Reichtums ohne Maßen. Das nur auf rationales Denken zurückführen zu wollen, ist zu wenig, denn es wird dem Menschen in all seiner Schöpferkraft nicht einmal ansatzweise gerecht. Schlussendlich ist Spiritualität nur eine Facette, ein Baustein in den Möglichkeiten, die ein Mensch hat, um seiner Welt ein Denkmal zu hinterlassen, ein Fingerzeig auf das, was Menschen möglich ist. Ich hoffe, damit konnte ich dir den Gedanken von Spiritualität in seinen verschiedenen Ausprägungen, so wie ich ihn wahrnehme, näherbringen.
Hier noch die wunderbare Ergänzung meiner geschätzten Kollegin D. als Fortführung der Gedanken zum Wesen der Spiritualität :
"Spiritualität hat für mich vom Begriff her mit Geist zu tun, mit etwas, was weiterreicht als unsere menschliche Ratio. Das göttliche Prinzip, das Hingabe und Demut erfordert, um es wahrzunehmen und so viel mehr schenkt als das, was ich erwarte. Wenn ich darum bitte.
Auch Vertrauen in die göttliche Vorsehung hat für mich mit Spiritualität zu tun, es ist etwas vorgesehen im Geistigen, was sich mir in meinem Horizont teils noch gar nicht unbedingt erschließt, aber die Chance besteht, dass ich es später besser verstehe: mit Herz und Verstand.
Auch hat Spiritualität mit der Anerkennung meiner menschlichen Kleinheit zu tun und der Anerkennung dessen, was geisterfüllt und lebendig ist. Auch das in Betracht ziehen, das Wunder möglich sind hat für mich mit Spiritualität zu tun…"
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